Archiv für den Monat November 2015

Aus der Siegssäule soll immerwährend weißer Qualm in den Himmel aufsteigen

Dienstag, 24. November 2015

Helmut Schmidt war ein Gigant. Nachdem sich ein Schwall von Lobesreden über Deutschland – ach was, über die ganze bekannte Welt ergossen hat, wissen wir: Der Gigant war wahrscheinlich sogar ein Titan. Deswegen müssen die Götterhimmel der meisten Weltreligionen neu geordnet werden. Jesus bekommt einen Bruder, Buddha eventuell einen neuen Vater, und was mit Allah geschehen soll, können wir uns gar nicht ausmalen, weil wir uns davon gar kein Bild machen wollen.

Der Landesverdand Baden-Süd der westdeutschen Tabakindustrie hat sogar vorgeschlagen, die Bundeshauptstadt Berlin in „Schmidt City“ umzutaufen. Ihm zu Ehren solle aus der Siegessäule im Tiergarten ein Schornstein werden, der wie eine riesige Zigarette aussieht. Sehr schön wäre es auch, wenn von ihr immerwährend weißer Qualm in einen Himmel aufstiege, wo seit neustem das Rauchverbot auf Schönwetterwolken aufgehoben worden ist. Das ist der aktuelle Stand.

Doch das hat auch Kritiker auf den Plan gerufen. Dieser Lobes-Tsunami habe einen schlechten Einfluss auf die Jugend. Der Bundesverband nikotinfreier Philologen weist vorsichtig auf Zigarettenschachteln hin, auf denen eindrückliche Worte das frühe und qualvolle Ableben von Tabakkonsumenten ankündigen. Das wirke doch angesichts eines hochgelobten, greise gewordenen Dauerrauchers unseriös, ja sogar unglaubwürdig. Führende Zigarettenhersteller erwägen sogar, auf Packungen ein Porträtbild des Verstorbenen zu drucken. Das ist doch alles Wahnsinn.

Bauarbeiter stören nur selten die Meditation der Autofahrer

Mittwoch, 11. November 2015

Vieles im modernen Leben wirkt gehetzt. Der Satz „Kommst Du heut‘ nicht, kommst Du morgen“, gilt als Ausgeburt Luzifers und nicht als Anregung für Gehetzte. Soweit die gängige Kritik. Aber ist das nicht alles großer Quatsch? Heutzutage, und morgen wird das noch mehr, leben wir doch ein einer völlig entschleunigten Welt. Entspannung pur, allerorten.

Allein schon das Telefonieren. Als wir früher noch an Strippen hingen, riefen wir jemanden an – und der ging ans Telefon oder war nicht da. Ein paarmaliges Piepen, und alles war klar. Streß pur, der Fall war in Windeseile geklärt. Dann mußte es sofort weitergehen. Heute lauert hinter fast jeder Rufnummer ein unterbesetztes Callcenter mit einer Warteschleife.

Hat man sich erstmal darin verfangen, steht das Leben still. Muße in Reinform, Zeit der Besinnung, der verträumten Telefonkritzelei. Es soll junge Menschen geben, die mehr als die Hälfte ihrer Lebenszeit damit verbracht haben, der Warteschleifenmusk zu lauschen. Die können problemlos „Für Elise“ herunterträllern oder ähnliche Beruhigungsmusik nachpfeifen.

Was die Bundesbahn zur Entspannung beiträgt, davon braucht man gar nicht zu reden. Das ist preiswürdig, geradezu meditativ. Ganz zu schweigen von den Glücksmomenten völliger Tiefenentspannung, wenn sich auf dem Computerbildschirm der Mauszeiger in eine sich hypnotisch drehende Eieruhr verwandelt. Dahinter steckt das Wirken einer wohlmeindenden Macht. Wahrscheinlich steckt das Gesundheitsministerium dahinter und will die Behandlungskosten für Gestreßte senken.

Sehr wirksam ist die Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Straßenbauwesen. Unsere Autobahnen sind ein Hort der Entschleunigung, in etwa so wie nach dem Genuß von einem Liter Schnaps. Dafür werden unentwegt kilometerlange Abschnitte gesperrt und aufgerissen. Damit wir beim Staustehen nicht aus unserer Meditation gerissen werden, lassen sich dort nur ganz selten Bauarbeiter blicken.

Entweder man verpaßt den Anschluß, oder man kriegt seinen Zug erst gar nicht mit

Mittwoch, 11. November 2015

Wir lieben die Zeitumstellung im Herbst. Pünktlich um 2 Uhr nachts finden wir uns auf Bahnhöfen ein, um einem gewaltigen Naturschauspiel beizuwohnen: der Entkopplung des Heisenbergschen Raum-Zeit-Kontinuums. Ohne uns vom Fleck zu bewegen, werden wir aus der Zeit gerissen, wenn wir beobachten, daß die Züge der Bahn für eine Stunde stillstehen. Und die Erde dreht sich trotzdem weiter. Wie macht sie das nur?

Eine Reise über die Zeitumstellung dauert nicht so lange, wie es im Fahrplan steht. Schuld hat Heisenberg mit seiner Unschärferelation. Daran kann auch der sehr kritische „Fahrgastverband Pro Bahn“ nichts ändern. Boshafte Zeitgenossen behaupten, Heisenberg habe – er war jung und brauchte das Geld – die theoretischen Grundlage für das deutsche Fahrplanwesen gelegt.

Demzufolge könne es keine exakten Fahrzeiten geben, was Bahnbenutzer bestätigen. Heisenberg hat das so erklärt: Zwei gegensätzliche Eigenschaften eines Zuges, nämlich Abfahrt und Ankunft, sind gleichzeitig nicht genau bestimmbar. Immerhin kann man es sich aussuchen: Entweder man verpaßt den Anschlußzug, oder man kriegt seinen Zug erst gar nicht mit.